„BIST DU LEBENSMÜDE?“, brüllt der Autofahrer rechts neben mir. „Der Radweg ist da drüben“, schiebt er noch durchs geöffnete Fenster hinterher. Dann hupt ihn der silberfarbene Audi hinter ihm aus dem Weg. Eigentlich würde ich viel lieber auf dem parallel verlaufenden Radweg fahren als hier, drei Spuren weiter links. Aber das ist verboten. Schließlich sitze ich auf einem S-Pedelec, einem schnellen Elektrorad, das rein rechtlich als Kleinkraftrad gilt und 45 km/h schafft. Deshalb muss es wie ein Auto auf der Straße fahren. Radwege und auch Radstreifen auf der Straße sind tabu. Und das, obwohl die angegebene Maximalgeschwindigkeit von 45 km/h wenig aussagt. Laut Experten sind 30 bis 35 km/h die Reisegeschwindigkeit, mit der die S-Biker in der Regel unterwegs sind.

Kaum jemand kennt S-Pedelecs

Ich schaffe die 45 km/h nur, wenn ich auf höchster Unterstützungsstufe permanent kräftig in die Pedale trete. Das geht gut, passt aber im Alltagsverkehr nicht zu jeder Verkehrssituation. Vor allem nicht jetzt, während ich zwischen Lastwagen und Grüne-Welle-Jägern drei Fahrspuren von rechts nach links wechseln will, um abzubiegen. Die 35 km/h, die ich fahre, finden meine Mitstreiter hier im Hamburger Zentrum eindeutig zu langsam. Meine Handzeichen zum Fahrbahnwechseln quittieren sie mit fassungslosem Kopfschütteln. Verständlich. Sie denken, ich fahre Fahrrad. Das kleine Nummernschild am Heck ist leicht zu übersehen, und S-Pedelecs kennt kaum jemand – abgesehen von Verkehrsplanern und Branchenkennern. Sie hoffen, dass diese Räder zukünftig ihren Beitrag zur Verkehrswende leisten und Langstreckenpendler zum Umsteigen vom Auto auf den Elektroflitzer bewegen.
Fehl am Platz
Fehl am Platz oder genau richtig? Noch kennen nur wenige Autofahrer die schnellen Elektroflitzer. Mitten im Alltagsverkehr sind sie PKWs mancherorts im Weg.
Bild: Sven Krieger

Zurzeit bremst die Gesetzeslage die Entwicklung aus. Paradox: Ein S-Pedelec sieht aus wie ein Fahrrad, fährt sich wie ein Fahrrad, darf aber nicht wie ein Fahrrad genutzt werden. Insbesondere das ausschließliche Fahren auf der Straße macht sie unattraktiv. Deshalb beobachten Experten zurzeit sehr genau, was im Ruhrgebiet passiert. Dort entsteht der erste Radschnellweg (RS1) Deutschlands. Einmal fertig, reicht er von Hamm bis nach Duisburg, ist 101 Kilometer lang, vier Meter breit An den Rahmenbedingungen für den RS1 werden sich die Planer weiterer Radschnellwege orientieren. Doch die Haltung der NRW-Landesregierung ist deutlich: keine S-Pedelecs auf Radschnellwegen. Peter London, Radverkehrsexperte im nordrhein-westfälischen Verkehrsministerium, sagte vor einiger Zeit: „Alles, was einen Führerschein benötigt, ist kein Fahrrad und gehört auch nicht auf den Radschnellweg.“ Der Verkehrsplaner Detlev Gündel unterstützt ihn.
Und Gündels Wort hat Gewicht. Er entwickelt mit Kollegen in der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA). Nach diesem Regelwerk werden hierzulande Radanlagen gebaut. Der Infrastrukturexperte sieht verschiedene Probleme. Entscheidend für ihn ist die Geschwindigkeitsdifferenz. Wenn ein Radfahrer bei 18 km/h von einem schnellen Pedelec mit 45 km/h überholt wird, sei der Schreckmoment viel größer als bei Tempo 25, sagt er. Bei Tempo 25 regelt ein herkömmliches Elektrorad ab.

S-Pedelecs brauchen mehr Platz

Studien zeigen jedoch, dass alle drei Fahrergruppen im Alltag bedeutend langsamer unterwegs sind, als Gündel annimmt. Er weiß das. Aber allein die Möglichkeit der S-Pedelecs, das Tempo fahren zu können, ist für ihn ein K.-o.-Kriterium. Für 45 km/h Spitzengeschwindigkeit ist Gündel der vier Meter breite RS1 deutlich zu schmal. „Für S-Pedelecs müssen die Rad- schnellwege fünf Meter breit sein“, sagt er. Dass ich auf dem schnellen Bike mehr Platz brauche, spüre ich im Alltag. Das liegt an meiner Reisegeschwindigkeit von etwa 35 km/h, aber auch am Rückspiegel. Der ist fürs S-Pedelec Vorschrift und verbreitert den Lenker um etwa 15 Zentimeter. Für mich ist die Konsequenz: Ich passe meine Geschwindigkeit an. Gibt der Platz es her, überhole ich Radfahrer mit etwa 1,5 Meter Abstand. Geht das nicht, senke ich mein Tempo. Doch diese angepasste Fahrweise trauen Kritiker den S-Pedelec-Fahrern nicht zu. Uwe Petry, ebenfalls Verkehrsplaner und Gündels Kollege im ERA-Ausschuss, spricht von „Entmündigung des Radfahrers“.
Bitte Schieben
Wald- und Wiesenwege sowie breite unbefestigte Forststraßen sind für S-Pedelecs tabu. Denn sie gelten als Kleinkrafträder.
Bild: Sven

Petry will S-Pedelecs auf Radschnellwegen zulassen. „Selbst wenn ein Radfahrer 45 km/h fahren kann, ist er im Alltagsverkehr bedeutend langsamer unterwegs“, sagt er. „Er passt seine Geschwindigkeit den Gegebenheiten an, wie es der Porsche-Fahrer im verkehrsberuhigten Bereich auch tut.“ Bei solchen Aussagen geht Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), an die Decke. „Kein Verkehrsteilnehmer hält sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung!“, stellt er klar.
„Ich finde S-Pedelecs super“, sagt er, „aber nicht auf der innerstädtischen Infrastruktur und auch nicht auf Radschnellwegen.“ Das Ziel des ADFC sei es, dass selbst Kinder mit Puky-Rädern dort fahren können. Und das vertrage sich nicht mit großen Geschwindigkeitsdifferenzen. Diese strikte Haltung des Fahrradclubs erstaunt viele Branchenkenner. Denn die wenigen Untersuchungen der Unfallforscher der Versicherer (UDV) sehen S-Pedelecs zurzeit nicht als Sicherheitsrisiko. Selbst Siegfried Brockmann, Leiter der UDV, sagt: „Auf bis zu vier Meter breiten Wegen ist ausreichend Platz, damit schnelle Fahrer langsamere Fahrer sicher überholen können.

Mofa, Fahrrad, Elektrorad: Das sind die Regeln

Mofa, Fahrrad, Elektrorad: Das sind die Regeln
S-Pedelec
ja
Klasse M
45 km/h
16 Jahre
ja
nein
ja
Mofa
ja
Klasse M
25 km/h
15 Jahre
ja
nein
ja
Pedelec
nein
nein
25 km/h
nein
nein
ja
nein
Fahrrad
nein
nein
nein
nein
nein
ja
nein

Tempolimit auf Radwegen

Der Zweirad Industrie Verband (ZIV) sieht das ähnlich: „Wir sehen die S-Pedelecs nicht auf allen Radwegen, vor allem nicht innerstädtisch“, sagt Siegfried Neuberger, ZIV-Geschäftsführer. „Aber auf Radwegen, die außerorts entlang der Bundesstraßen verlaufen, müssen sie fahren können. Auf Bundesstraßen will kein Radfahrer und S-Pedelec-Fahrer unterwegs sein.“ Gerade die Verbindungsstrecken entlang der Bundesstraßen und auf Einfallstraßen sind für Pendler interessant. Beobachtungen in den Niederlanden zeigen: S-Pedelecs können den Autoverkehr entlasten.
Laut Nick Hielckert von der Dutch Cycling Embassy, dem niederländischen Pendant des ADFC, sind S-Pedelec-Fahrer in erster Linie Alltagspendler. Sie sind zwischen 30 und 55 Jahre alt, wohnen am Stadtrand und pendeln zehn bis 40 Kilometer ins Zentrum oder in die Nachbarstadt. Damit entlasten sie den Autoverkehr. Diese Erfahrung bestätigen Händler aus Deutschland. Thorsten Cornils, Geschäftsführer von M1 Sporttechnik im bayrischen Weyarn, verkauft seit fünf Jahren S-Pedelecs. Er sagt: „Die Käufer nutzen sie fürs Pendeln und als Autoersatz.“ Für 20 bis 40 Kilometer lange Strecken. Allerdings berichten ihm Kunden, dass sie ihr Nummernschild abschrauben, um verbotenerweise auf dem Radweg zu fahren
Nummernschild
Der kleine Unterschied: Dieses eBike sieht aus wie ein Fahrrad, ist aber keins. Es trägt Versicherungskennzeichen und muss auf die Straße.
Bild: Sven Krieger

Die Niederlanden als Vorbild?

In den Niederlanden ist das nicht nötig. Dort gelten S-Pedelecs zwar seit Jahresbeginn ebenfalls als Kleinkraftrad, aber es existieren Alternativen. Innerorts müssen sie auf der Fahrbahn fahren, sagt Hielckert. Häufig gibt es in den Städten aber auch separat geführte Fahrrad- und Mopedwege. Auf denen dürfen die Elektroflitzer mit 30 km/h fahren. Außerhalb der Stadtgrenzen sind sie mit angepasster Geschwindigkeit entweder auf den Radwegen unterwegs, oder sie fahren ebenfalls auf den Fahrrad- und Mopedstrecken. Dort gilt für sie ein Tempolimit von 40 km/h. Die Schweiz macht es den Fahrern noch leichter. Die Eidgenossen dürfen mit ihren Bikes alles machen, was mit einem normalen Rad möglich ist. „Dort funktioniert die gemeinsame Radwegenutzung“, sagt Franz Tepe von der Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft.

Und fragt: „Warum sollte das in Deutschland anders sein?“ Aber das Bundesverkehrsministerium bremst die Städte und Kommunen derzeit aus. Der Ministeriumssprecher erklärt zwar, dass die Straßenverkehrsbehörden der Länder geeignete Radwege mit dem entsprechenden Zusatz- zeichen auch für S-Pedelecs öffnen können. Aber seine Aussage hat einen Haken: Es existiert kein Zusatzzeichen für S-Pedelecs. Wer einen Radschnellweg für S-Pedelecs mit dem entsprechenden Zusatzzeichen öffnet, gibt ihn damit auch für Mokicks, Mopeds oder Roller mit Verbrennungsmotor frei. Deshalb fordern viele Planer einen Praxistest. In einem Modellversuch sollen S-Pedelecs auf Radschnellwegen fahren können, mit lokalen Lösungen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen. Verkehrsplaner Petry sagt es deutlich: „Wenn das S-Pedelec eine Verkehrsalternative werden soll, muss man diese Punkte jetzt ausprobieren.“