Das Diamantenfieber beginnt vor zwei Jahren, als ein Hamburger Fahrradhändler seinen Laden für immer schließt. Er weiß: Wenn es darum geht, Kulturgut auf zwei Rädern zu erhalten, dann ruft man Nico Thomas an. Und so verspricht der ältere Herr dem Retter historischer Räder: „Im Keller steht noch ein altes Diamant-Rad. Das kannst du mitnehmen.“ Hinter Kartons, Fahrradreifen und Ersatzteil-Regalmetern entdeckt Nico den Patienten im Dornröschenschlaf. „Das Rad sah fürchterlich aus, Rahmen und Reifen waren mit Bronzelack gestrichen, einmal mit dem dicken Pisel drüber”, erinnert sich der Restaurator. Dazu neuzeitliche Stilbrüche wie Speichenreflektoren aus Plastik und Gelsattel. Lange hatte das Rad der Chemnitzer Fahrradfabrik sein Dasein als „Gutschein-Fahrrad“ gefristet, musste auf dem Gabentisch als Platzhalter fürs bestellte und noch nicht gelieferte Wunschrad herhalten. Kein schöner Anblick, doch der 42-Jährige wittert das Potenzial: Das hier kann ein echtes Traumrad werden. „Zu Hause hab ich das Steuerkopfschild vorn gesehen und dachte: Das ist doch Vorkrieg.“ Er recherchiert. Die Ausfallenden, die geraden Streben hinten – Merkmale eines typischen Sportrads aus Großvaters Zeiten. Konkret: Diamant Modell 68, Auslieferungsjahr 1940. Damals erhältlich sowohl als Stadt- als auch in der Sportradversion mit Rennlenker. Volltreffer! Noch dazu feiert die Ex-DDR-Marke Diamant unter Kennern gerade ein Comeback.

Leidenschaft für Handwerkskunst und Restauration

Ein hoch auf Oldtimer! Nico Thomas stemmt sein zwölf Kilo schweres Modell 68. Ausfahrten gibt es nur bei Schönwetter.
Bild: Peter Rüssmann
Nico muss zugeben, ein Velophiler zu sein, einer, der Fahrräder mit Leidenschaft sammelt. Schon als Kind kauft der Niedersachse alte Räder von den Landwirten aus der Nachbarschaft für ein paar Mark und pimpt sie auf. Später werden Rad-Oldtimer sein Steckenpferd, die Lust am originalgetreuen Restaurieren wächst. „Ich fühle schon an der Schraube, ob sie aus früher Produktion stammt oder 70er-Jahre-Schrott ist.“ Nico bewundert den Aufwand, der vor Jahrzehnten in die Fertigung hochwertiger Räder geflossen ist. Mit dem „Schmiedezeugs vor der Jahrhundertwende“ habe er sich nicht anfreunden können, er liebt die Rennmaschinen der 20er und 40er. Seinen dynamischen Fuhrpark von derzeit 19 alten und neueren Bikes hält er überschaubar. „Ich habe nur einen Hintern zum Fahren“, sagt Nico. Sein Credo: Historische Räder gehören nicht als Heiligtum in die Vitrine. Jedes Rad soll gefahren werden.

Steckbrief: Modell 68

Hersteller: Diamant
Baujahr: 1940
Bereifung: 28 Zoll
Schaltung: Singlespeed
Wert: 1200 Euro

Goldgräberstimmung beim Lackabschleifen

Unter dem aufgepinselten Bronzelack: der originale Diamantschriftzug. Er war allerdings zu schlecht um ihn zu erhalten.
Bild: Peter Rüssmann. privat
So dauert es ein Dreivierteljahr bis zum spannendsten Moment der Restaurierung: „Zu fühlen, wie sich Modell 68 fährt!“ Und? „Fühlt sich toll an“, so Nico. Geht es genauer? Klar, sehr direkt und wendig. Oller Drahtesel? Nö. Nichts wackelt, klappert. Modell 68 fährt geräuschlos seiner Wege. Bis zu 50 km/h gehen locker mit dem Singlespeed oder Eingangrad, wie Nico es im Hinblick auf das Baujahr nennt. Der Weg zum Diamant-Schliff ist holprig, die Operation aber routiniert. Als Erstes zerlegt Nico das Geschenkrad bis hin zum letzten Schräubchen. Der Wahl-Hamburger nennt das volle Programm gern „große Hafenrundfahrt mit Speicherstadt“. Nico schleift den neuzeitlichen Horror-Lack ab und findet Reste des alten Diamant-Schriftzugs. Goldgräberstimmung! Der aufwendigste und mit rund 500 Euro teuerste Posten ist die Neulackierung. Gemeinsam mit dem Lackierer und einem Freund, der eine Airbrush-Anlage besitzt, experimentiert der Restaurator herum, um das Strahlenkopf-Logo unterm Lenker originalgetreu zu rekonstruieren. Das Trio arbeitet mit verschiedenen Blechschablonen, holt sich hellblaue Fingernägel, bis es klappt.

Ersatzteilsuche in ganz Deutschland

Das leichte Sportrad, zeitgenössisch mit 26-Zoll-Bereifung produziert, haben damals viele auf 28" umgerüstet – auch Nico.
Bild: Peter Rüssmann

Die Original-Ersatzteile, die er braucht, besorgt sich Nico im Tauschhandel. Man kennt sich schließlich in der Szene, das sei viel netter, zuverlässiger und auch günstiger als etwa eBay, wo längst Wucherpreise gefordert werden. Den historisch korrekten Vorbau findet er bei einem Berliner Rad-Kumpel, den Lenker in Hamburg, ein Pärchen Schnellspannmuttern in Thüringen. Holzfelgen, die bei Sporträdern der 40er-Jahre besonders beliebt waren, stehen lange auf seiner Wunschliste; nun bestellt Nico einen Satz aus Buchenholz bei Ghisallo in Italien. Um den Diamanten zum Funkeln zu bringen, ist eben kein Aufwand zu groß. So fahrrad- und insbesondere oldtimerverliebt wie Nico sind auch die übrigen rund 50 Mitglieder des Altonaer Bicycle Clubs (ABC), einer der ältesten Fahrradvereine der Welt und mit Sicherheit der älteste Deutschlands. 2013 entstand er nach 145-jähriger Geschichte und zwölfjähriger Pause neu. Im Gründungsteam: natürlich Nico.

Mit authentischer Kleidung auf historische Räder

Ziel der ambitionierten ABC-ler: Fahrradgeschichte lebendig machen. Auch mit Ausfahrten zum Picknick oder in authentischen Outfits der 20er- oder 40er-Jahre. Und das natürlich nur bei Kaiserwetter, zu viel Alltag sollen die Rad-Juwelen dann doch nicht aushalten müssen. Mit Rad-Kumpels trifft sich Nico außerdem zu offenen Schrauber-Wochenenden. „Wir nehmen uns Zeit für die Problemfälle, die Hamburger Fahrradhändler nicht lösen können. Fürs verbrauchte Material gibt’s fünf Euro in die Kaffeekasse.“ Das Ganze soll kein Geschäftsmodell sein.
Trittsicher: Tempo 50 ist kein Problem. Wie es sich für's Sportrad gehört, fährt Nico gern schnell. Kleidungsstil: Mal Jeans und Turnschuh, mal 20er-Jahre-Rennoutfit.
Bild: Peter Rüssmann

Attraktive Fahrräder in limitiertem Kalender

Und weil das nicht genügt, gibt Nico Thomas seit 2014 mit dem Fotografen Peter Rüssmann einen Kunstkalender mit historischen Fahrrädern heraus – „One Year of Bicycles“, Auflage 1000 Stück. Manchmal schwärmen ihnen entzückte Frauen vor, dass sie ihren Männern endlich einen etwas anderen Spind-Kalender schenken können. Und Nico witzelt: „Wir sind der Landlust-Kalender der Fahrradszene.“ Sein 68er Diamant ziert übrigens dieses Jahr den Monat April. Klar, dass diese Perle zu den Dauergästen in Nicos Fuhrpark zählt. Sonst gilt: Fahrräder, die er mit viel Liebe restauriert, eine Zeit lang gefahren ist und dann weitergibt, landen bestimmt nicht bei Hipstern, für die ein Radoldie nur als cooles Modeaccessoire herhält. Und was ist es, das Nico Thomas mit all der Hingabe sagen will? Ganz einfach: „Das Leben ist zu kurz, um miese Fahrräder zu fahren.“
Sabine Franz